Was haben Schulden mit unserer Gesellschaft zu tun? Einiges, wirst du sicher ohne zu zögern sagen. So ist es auch, doch die Analyse, die David Graeber in seinem Buch Schulden – Die ersten 5000 Jahre dazu liefert ist in meinem Gehirn explodiert wie ein Feuerwerkskörper zu Silvester. Hier ein kleiner Blick ins Buch.
Im ersten Kapitel beginnt Graeber damit, das Konzept von Schulden – welche Art sagt er hier noch nicht – zu zerpflücken. Müssen wir unsere Schulden zurückzahlen? Was haben Schulden mit Macht über Andere zu tun? Was ist der Unterschied zwischen einer Verpflichtung und einer Schuld?
Mir war nach den ersten zwanzig Seiten klar, dass dieses Buch spannend werden wird.
Der Mythos vom Tauschhandel
Wenn wir kein Geld hätten, dann wäre alles furchtbar kompliziert, oder? Zum Beispiel ich möchte von Lisa einen Hula Hoop und sie braucht gerade Kartoffeln, die ich aber nicht habe. Dann gibt sie mir den Hula Hoop nicht, denn ich habe nicht, was sie braucht. Einige von euch realisieren bestimmt jetzt schon, dass die Situation seltsam ist, denn so würde eine Gesellschaft ohne Geld nicht funktionieren. Die dahinterliegende Logik ist klar:
- Überschuss wird nicht geteilt
- Beide Seiten müssen ähnliches beitragen
- Der jeweilige Beitrag muss sofort geleistet werden
- Nach dem Tausch sind wir einander nicht weiter verpflichtet
Diese Prinzipien bestimmen mein Leben. Wenn ich in ein Geschäft gehe, selbst wenn es kein Konzern ist, dann läuft der Austausch von Ressourcen nach diesen Prinzipien ab. Ich bekomme das Gemüse nur, wenn ich es sofort, zum festgelegten Preis, bezahle. Überschuss wird in der Regel nicht geteilt und ich habe keine Möglichkeit auf andere Weise einen Beitrag zu leisten. Wenn ich das Gemüse habe, dann gehe ich meiner Wege. Ob der Verkäufer noch ein Gespräch braucht, welches für Geld nicht zu bekommen ist, interessiert mich in dieser Situation nicht.
In Gemeinschaften ohne Geld, sogenannten Geschenkökonomien, würde die Situation eher so aussehen: Ich gehe zu Lisa und sage „Oh, was für ein schöner Hula Hoop.“ woraufhin Lisa sagt „Wenn du willst mache ich dir auch so einen“. Fertig. Naja, noch nicht ganz. Lisa geht in den Wald und vor lauter Tollerei zerreißt sie sich die Hose. Wir sehen uns am Abend, wo ich das Loch in Lisas Hose bemerke und ich sage „Hey gib‘ mal her. Ich repariere das für dich.“ So entsteht nach einiger Zeit ein Netzwerk aus Schulden, in dem jede ein bisschen in der Schuld der anderen steht, sodass es seltsam wäre die Schuld jedes mal zu quantifizieren und schriftlich festzuhalten.
Ich will mehr als nur Tausch
Im zweiten Beispiel kommt es, wie im ersten Beispiel, auch zu einem Tausch zwischen Lisa und mir. Man könnte sagen, dass ich Lisa’s Hose nur repariere, weil ich in ihrer Schuld stehe. Also quasi ein zeitverzögerter Tauschhandel, der nach wie vor mit dem Konzept von Schuld arbeitet.
Der Trick an diesem System vorbeizukommen liegt darin, unser Verständnis von sozialen Beziehungen außerhalb von Schulden zu suchen und eine andere Annahme zur sogenannten „Natur des Menschen“ aufzustellen. Diese wäre, dass Gegenseitigkeit nicht entscheidend für moralisches Handeln ist. Wenn ich Lisa bloß helfe, weil ich in ihrer Schuld stehe, dann reduziert sich unsere Beziehung zu einander darauf, unsere gegenseitige Schuld zurückzuzahlen und Gerechtigkeit entsteht, wenn jede ihren Teil geleistet hat. Danach ist die Geschichte zu Ende und jede von uns könnte schuldfrei ihrer Wege gehen. Doch kann Gerechtigkeit darauf reduziert werden, dass jede ihren beziehungsweise einen gleichwertigen Beitrag leistet?
Ich fände es gerechter, wenn ich die Hose auch repariere, wenn mir Lisa nie einen Reifen gibt. Ich fände es bescheuert die Hose nicht zu reparieren, obwohl ich es kann und schließlich kenne ich Lisa ja. Die Menschen zu kennen, die Ressourcen von uns erhalten, das scheint auch ein entscheidender Faktor für die von Graeber beschriebenen, funktionierenden Geschenkökonomien zu sein.
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Wer Schulden hat ist selber Schuld?
Ein weiterer guter Grund das Buch zu lesen sind jene Kapitel, welche sich mit der Rechtfertigung von, ansonsten unvorstellbarer, Gewalt gegen SchuldnerInnen beschäftigt. Früher wurden Kinder, Frauen und letztlich auch der (männliche) Schuldner in die Sklaverei verkauft. Heute geht es natürlich humaner zu, in dem man ihnen erniedrigende, ökonomische Beschränkungen und Lebensbedingungen auferlegt. Das ist viel besser *hust*. Warum es O.K. ist Menschen, die in einer vermeintlichen Schuld stehen, Gewalt anzutun fragt sich auch der Autor. Er versucht die dahinterliegenden Annahmen zu erfassen:
- in jemandes Schuld zu stehen ist grundsätzlich unnatürlich
- Schuld ist eine Sache der Moral, daher ist der Schuldner
a) selber Schuld an seiner Situation
b) hat einen niedrigeren Status als der Gläubiger - Schulden müssen exakt, in einer definierten Art und Weise zurückgezahlt werden
- Schuld muss zurückgezahlt werden, sie kann nicht vergeben werden
- Schuld basiert auf einem noch nicht beendetem Tausch (!)
Für mich steht daher ab jetzt fest: ich möchte weniger Tauschen und stattdessen frei geben. Ich steh‘ auf Freiheit und bin nicht bereit Andere darin einzuschränken, bloß weil sie etwas von mir brauchen.
Fazit zum Buch „Schulden – die ersten 5000 Jahre“
Alles in allem ist das Buch „Schulden“ eine leicht lesbare, sehr unterhaltsame Mischung aus Theorie und Beschreibungen anderer, meist traditioneller Gesellschaften. Diese Beschreibungen bereichern das Buch im Vergleich zu anderen Büchern über Ökonomie ungemein, da sie mehr bieten, als eine Kritik am System in dem ich lebe. Sie bieten nicht nur einen Blick über den Tellerand, sondern ein faszinierendes Panorama menschlicher Interaktion.
Schulden – die ersten 5000 Jahre
Sacred Economics mit Charles Eisenstein
Zum Abschluss ein kurzer Film, der gut zum Video passt – auf englisch, mit deutschen Untertiteln.
Hallo Isabella,
Dein Artikel hat mich recht angesprochen, weil ich hier (Rumänien) sehr viel mit Tauschhandel konfrontiert bin, im Positiven wie im Negativen. Gleichzeitig bin ich mir aber nicht ganz klar darüber, und gerade mein deutscher Gerchtigkeitssinn muckt öfters mal auf… Meine Erfahrungen damit: erstmal muss ich sagen dass es stimmt dass dieses Tauschen und sich gegenseitig Helfen ein gutes Gefühl auslöst. Geben können. Und dass mir in der Not auch geholfen wird. Das gibts bei mir in Deutschland auf dem Dorf kaum noch, jeder hat ja alles oder kauft es sich eben. Man lebt dadurch automatisch isolierter. Aber hier kannst du gar nicht aus – also ich zieh ein, dann kommt schon der Nachbar und bringt Schafskäse vorbei. Am nächsten Tag kommt er wieder und fragt, ob er nicht das Heu von meinem Garten haben kann. Ich finds komisch, das Unwort „Kuhhandel“ geht mir durch den Kopf. Dann geb ichs ihm doch, hab ja noch nichts damit anzufangen. Dafür gibt er mir aber wieder Mist, usw. Das geht bis heute so, der Käse ist geschenkt, Bargeld gehört absolut zum schlechten Ton, und unter Nachbarn sowieso nicht. Das „Schulden-Netzwerk“ ist also perfekt – einer steht immer in der Schuld, und man achtet darauf, dass auf Dauer das Gleichgewicht einigermaßen gewahrt bleibt.
Aber mir kommt halt ständig in den Sinn was Du auch sagst: „Ich will mehr als nur Tausch“, ich will Vertrauen und Sicherheit! Also nochmal auf Anfang, wie hätte das in Deutschland ausgesehen? – Ich ziehe ein, und der Nachbar kommt und fragt mich, ob er nicht das Gras von meinem Garten haben kann. Ich sage dann ok, und danach gibt er mir Käse! Ich würde sagen, das ist der kleine aber gewaltige Unterschied, zuerst wird an den Menschen appeliert, um eine Vertrauensbasis sicherzustellen, und nicht nur Leistung/Gegenleistung aufzubauen.
Graeber sagt ja auch richtig, dass man den Menschen kennen muss, mit dem man Ressourcen austauscht.
Die Grundlage für ein funktionierendes Tauschen ist also Vertrauen, und daher wäre er nur in kleinen Gruppen möglich, wo man sich gegenseitig kennt und am besten auch zusammenlebt. Allgemein ist ja Vertrauen die unabdingbare Grundlage in einer Gesellschaft, und zB Rumänien ist nunmal eine mit sehr sehr wenig davon. Das ist auch der Grund, warum hier Tauschhandel auf gesellschaftlicher Ebene in (institutionalisierte) Korruption pervertiert ist.
Hi.
Danke für die gute Zusammenfassung, Isabella!
Ich bin ganz deiner Meinung, Eduard! Wir leben in einem „Schuldennetzwerk“, ich behaupte es fängt schon in der Familie an!
Ich würde es unglaublich schön finden, in einem Schenk-Netzwerk zu leben, vor allem hat man da kein schlechtes Gewissen etwas zu bekommen, zu nehmen, zu verwenden. Es wäre ein Netzwerk wo Allen alles gehört. Großteils habe ich das in meiner Familie erlebt und jetzt in der WG, wo ich seit zwei Jahren wohne.
Leider sehe ich enorm viele Probleme und bin der Meinung, dass es unmöglich ist das Netzwerk zu vergrößern oder gar Alle (aus einer Straße, aus einer Siedlung, aus einem Orf, aus einer Stadt, aus einem Land) miteinzubinden.
Das größte Problem an dem Ganzen ist, dass es ganz ganz ganz unterschiedliche Menschen gibt und sehr unterschiedliche Auffassungen von Tausch, geben und nehmen, schenken und das aller Wichtigste: die unterschiedliche Auffassung von Gerechtigkeit!
Ein Beispiel: Innerhalb meiner Familie (2Eltern, 1 Schwester, 1 Bruder, ich) fühlt sich mein Bruder immer ungerecht behandelt, egal wie viel er bekommt. Außerdem möchte er immer eine Gegenleistung, mit einem Mehrwert für ihn, für einen Gefallen. Sogar aus Überschuss versucht mein Bruder einen Gewinn zu erziehlen. Meine Mama wiederum möchte immer das Beste selber behalten, schenkt aber wirklich gerne, was sie absolut nicht braucht, jemand anderen – zb mir. Meine Oma hingegen freut sich, wenn sie anderen eine Freude bereitet und wenn man ihr Aufmerksamkeit schenkt. Das reicht aus um von ihr fast alles zu bekommen. Das ist, meiner Meinung nach, aber schon „Ausnutzung“, weil sie nicht Nein sagen kann und es allen recht machen will und daher wirklich alles für uns tut, auch wenn sie es eigentlich nicht will. Nicht einmal innerhalb meiner Familie besteht so viel Vertrauen, dass bedingungsloses Schenken und geben und nehmen von Allen Sachen möglich wäre. Außerdem sind die Menschen so verschieden, dass es größer aufgezogen nicht funktioniert.
Die Faktoren, warum es in einem größeren Netzwerk nicht annähernd gerecht funktioniert, sind: die unterschiedlichen Werte (sogar innerhalb Familien), eine unterschiedliche Wahrnehmung von Gerechtigkeit, unterschiedlich ausgeprägter Egoismus, unterschiedliches schlechtes Gewissen (=Hämmung andere bewusst Auszunutzen), unterschiedliche Faulheit, unterschiedlich ausgeprägtes „Aufopferungsverhalten“, unterschiedliches Bedürfnis von Besitz (Messiverhalten), unterschiedliche Selbstlosigkeit und Großzügigkeit, unterschiedliche Zeitressourcen, unterschiedliche materielle Ressourcen und noch weitere Faktoren.
Außer man findet es ok, dass Manche ganz viel geben, meist die, die weniger haben, und Andere viel weniger geben, oft diejenigen, die mehr haben. Ich würde mich nicht wohl fühlen in einem „Schenknetzwerk“, wenn ich mitbekommen würde, dass Manche das Netzwerk ausnutzen und Andere ausgenutzt werden. Die Korrution in allen Länder ist ein gutes Beispiel dafür, dass es so viele Menschen gibt, die ohne schlechtem Gewissen, Andere ausnutzen – die Staatskasse sind auch wir Alle.
Zum Schluss etwas Positives:
Ich glaube daran, dass es möglich ist, Gleichgesinnte zu finden und ein „Schenknetzwerk“ im kleinen Stil, und vor allem auf bestimmte Sachen begrenzt, zu erschaffen. Ein gutes Beispiel ist die „Share and Care“ Community in Facebook. Ich glaube nicht, dass sie gerecht ist, aber sie funktioniert und sie öffnet das Bewusstsein der Mitglieder für mehr Großzügigkeit.
Mein persönlicher (naiver) Wunsch ist es, innerhalb einer Gemeinschaft zu leben. Mit Menschen, die ähnliche Einstellungen und Interessen haben und ähnliche oben genannte Faktoren, sich der Unterschiede bewusst sind und so selbstreflektiert sind, dass Meinungsverschiedenheiten und Konflikte offen angesprochen werden können. Ich glaube, dass ich nur lange suchen muss, um eine kleine Gruppe zu finden, innerhalb der enormes Vertrauen besteht und ein „Schenknetzwerk“ möglich ist. Ein Versuch ist es jedenfalls wert! Wenn wir zum Schluss eine ganze Siedlung sind, freut es mich umso mehr. ;)
Gute Nacht! :)
Danke für diesen tollen Artikel!
Die Zeit ist reif dafür, dass die Menschheit in diesen schönen Freiheitsgedanken hineinwächst… :)
Guter Artikel – machen wir die Verbindung zum heutigen Geldsystem: Sagen wir mal ich schreibe ein Buch, welches sich so gut verkauft, dass ich ohne viel weitere Arbeit Unmengen an Geld verdiene, welches ich fast gar nicht mehr ausgeben kann/will – oder ich mache eine großartige Erfindung – gründe eine Firma und werde damit sehr reich. So geht es eben derzeit viele Menschen. Manche wollen ja auch mehr geben als nehmen. Dieses Geld fehlt natürlich im Geldkreislauf und muss nachgedruckt werden, bzw. jemand muss sich verschulden. So brauchen wir eben immer mehr Schulden, um die wirtschaft am Laufen zu halten. Bald wird der Zeitpunkt kommen, an dem die Schulden weggeschenkt werden, Vermögenswerte gen null fallen und wir in einer Postwachstumsökonomie leben können.
Liebe Bella,
danke Dir für den guten Artikel. Vor allen die Stellen des Tausches und des Schenkens waren für mich schön zu lesen, da ich in Workshops ebenfalls diese Ebenen anspreche und ähnliche Kritik übe/ zu Schlussfolgerungen komme.
… Somit kann ich während der Workshops & Projekttage auf einen weiteren Menschen verweisen, der ähnliche Dinge sagt :)
David Graeber steht sowieso schon länger auf meiner imaginären Liste spannender Autor*innen in meinem Kopf… Ein weiterer Grund, ganz bald ein Buch von ihm auch physisch in die Hand zu nehmen!
Danke Dir!