Nach einem kleinen Abendessen gehe ich im Café noch kurz am Kühlschrank vorbei, packe mir ein, zwei Sachen ein, die mir gefallen und nehme auch aus dem Regal noch was mit. Vielleicht gebe ich beim Hinausgehen noch eine kleine Spende – aber manchmal gehe ich auch wieder, ohne zu bezahlen.
Kleiner Dieb? Oder schöne neue Welt?
Im Café Übrig in der Freisinger Innenstadt läuft das tatsächlich so oder so ähnlich, wenn ich dort bin. Das Foodsharing-Café wird seit dem Frühjahr 2021 vom Verein „übrig e.V.“ betrieben, welcher sich für nachhaltigen Umgang mit unseren Ressourcen einsetzt. Ich durfte mit Philipp (30) sprechen, der sich im Verein engagiert.
Michael Voit: Euer Verein setzt sich für „nachhaltigen Umgang mit unseren Ressourcen“ ein. Geht es also neben Foodsharing auch noch um weitere Punkte.
Philipp: Foodsharing setzt sich gegen Lebensmittelverschwendung ein. Sowohl in der Industrie als auch in Privathaushalten werden Unmengen an Lebensmitteln weggeworfen, Schätzungen gehen von etwa einem Drittel der produzierten Lebensmittel aus. Die Herstellung und Verarbeitung von Lebensmitteln ist ressourcenaufwendig, gerade in industrieller Form: Der Anbau nutzt Boden und Wasser, Düngemittel und (verbrennungsmotorbetriebene) Maschinen. Der steigende Flächenverbrauch vernichtet Wildgebiete als Lebensorte für Tiere und Pflanzen, und als Rückzugsorte für Menschen, das betrifft also die „Ressourcen“ Biodiversität und Erholung beziehungsweise Naturverbindung. Nun kommt der Ressourcenverbrauch (Energie, Wasser, Antriebsmittel) von Transport und Verarbeitung und Vertrieb und Verkauf dazu. Dann dürfen wir uns noch Gedanken über die Entsorgung von Verpackungen machen.
Zu guter Letzt finde ich auch die Betrachtung der, sehr entfremdet bezeichneten, „human resources“ sehr relevant: Was sind die Arbeitsbedingungen der Menschen, die im Lebensmittelsektor arbeiten? Was bedeutet es, dass Lebensmittel, als Produkt ihrer Arbeit, so günstig sind, und dann verschwendet werden?
Wir sprechen also viele Punkte der ökologischen und wirtschaftlichen Nachhaltigkeit über das Thema „foodsharing“ an. Einen Beitrag für soziale Nachhaltigkeit wollen wir zum Beispiel über Bildungsveranstaltungen und Bereicherung des kulturellen Lebens, in vielen seiner Facetten, leisten.
Michael: Das ist ein schöner Überblick, wie weit die foodsharing-Idee reicht. Auf den ersten Blick ist euer Café aber doch ein „Fairteiler“. Was dürfen wir uns darunter vorstellen?
Philipp: Ein Fairteiler ist ein öffentlicher Ort, wo alle Lebensmittel hinbringen und/oder mitnehmen können. Konkret sind bei uns im Café zwei Regale und ein Kühlschrank aufgestellt. Als Verein betreuen wir den Fairteiler, das heißt, wir kontrollieren die Lebensmittel regelmäßig und reinigen. Das Ganze ist allerdings ein Konzept, das von der Organisation „foodsharing“ stammt. foodsharing bietet eine kostenlose Online-Plattform, auf der Privatpersonen nicht mehr gebrauchte Lebensmittel von Betrieben (Supermärkte, Bäckereien, Restaurants, …) abholen. Unter Fairteiler und Abgabestellen könnt ihr im Foodsharing-Wiki mehr erfahren.
Begegnungsort und Veranstaltungen mitten in Freising
Michael: Mit dem Foodsharing-Café außen herum seid ihr dann doch viel mehr. Kannst Du mir ein wenig über die Idee dahinter erzählen und was ihr davon bisher umsetzen konntet?
Philipp: Die Idee entstand aus einer Gruppe von Menschen heraus, die teils bei foodsharing aktiv sind. Wir haben festgestellt, dass das Thema Lebensmittelverschwendung noch immer nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die es benötigt, trotz des großen Engagements, das zum Beispiel über die foodsharing-Plattform möglich ist. Zusammen mit dem Wunsch, in Freising einen Begegnungsort zu gestalten, an dem verschiedenste Themen der Nachhaltigkeit besprochen, und kleine Initiativen für mehr Bewusstsein gezündet werden können, hat sich die Vision eines Cafés geformt. Finanzielle Mittel der Gäste und Konsum sollen dabei eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Ein starkes Vorbild war und ist dabei die Raupe Immersatt in Stuttgart.
Dabei hatten wir großes Glück, einen Einzelhändler in Freising kennenzulernen, der auf der Suche nach einer Kooperation oder Übernahme seines Ladengeschäfts in der Innenstadt war. Wir konnten und können die Laden- und Gastronomie-Einrichtung benutzen, was uns ermöglicht hat, direkt ein paar Ideen umzusetzen: Als Foodsharing-Cafe bieten wir unter anderem kostenlose Getränke und Speisen aus Lebensmitteln an, die sonst weggeworfen worden wären (sog. „gerettete“ Lebensmittel). Wir haben eine Ecke für Second-Hand-Kleidung eingerichtet, und ein Regal mit Büchern sowie Pflanzen zum Mitnehmen oder Abgeben. Zwei Mitglieder haben aus alten Fahrradteilen einen Mixer gebastelt, der über Muskelkraft angetrieben werden will!
Michael: Welche Erfahrungen habt ihr mit dem Café Übrig gemacht?
Philipp: Die Resonanz ist sehr positiv, unser gastronomisches Angebot wird gut angenommen. Leute, die sich bislang wenig mit Lebensmittelverschwendung befasst haben, sind oft überrascht über die Mengen, die wir anbieten (ob anderthalb Tonnen Süßigkeiten und Schokolade, 3000 Ostereier, 30 Stiegen Nektarinen, zwei Kofferräume mit Backwaren, …). Wir sind froh, dass sich unsere Kosten (hauptsächlich Miete) über Spenden und Mitgliedsbeiträge tragen. Ich persönlich genieße den Austausch und die Vernetzung sehr, die sich vor Ort im Café ergibt.
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Café Übrig 2.0 – Bald wird alles noch besser!
Michael: Ihr selbst beschreibt den aktuellen Standort ja so lange ich das Café Übrig kenne als Zwischennutzung. Im Frühjahr 2022 soll es nun aber in größere Räumlichkeiten gehen. Was habt ihr dort vor?
Philipp: Vor haben wir in der Tat viel! Da dürfen wir uns vor dem Umzug überlegen, wie wir die Ideen Stück für Stück umsetzen. Zum einen möchten wir den Außenbereich vor den neuen Räumlichkeiten nutzen, für das Café-Angebot, aber auch Kulturveranstaltungen wie Konzerte oder eine Filmvorführung. Ein Hauptanliegen des Vereins ist die Bildungsarbeit. Wir stellen uns vor, gemeinsame Kochveranstaltungen, Repair-Cafés, Workshops (z.B. Lebensmittel haltbar machen, Kleidung nähen, Upcycling im Allgemeinen) und Vorträge veranstalten zu können. Diese Events sind dann für die Öffentlichkeit zugänglich und hoffentlich kostenlos! Ich glaube, Wandel entsteht auch aus kleinen Initiativen heraus. Wir dürfen unsere gegenseitigen Bedürfnisse und Visionen in respektvollem Austausch kennenlernen. Ich sehe im Café übrig viel Potential, das sich Verbindungen ergeben und Menschen gemeinsam ins Gestalten und Umsetzen kommen!
Michael: Werdet ihr weiter stark auf ehrenamtliches Engagement setzen oder gibt es bei Euch auch hier Pläne oder Ideen zu einer Festigung der Strukturen – also zum Beispiel durch Mini-Jobs oder eine FÖJ-Stelle?
Philipp: Wir haben bislang jegliche Arbeiten ehrenamtlich gestemmt. Das betrifft nicht nur die Café-Schichten, das Zubereiten von Speisen, und das Abholen von Lebensmitteln, sondern auch die Öffentlichkeitsarbeit (Website, Social Media und Presse), Branding, Mitgliederverwaltung, Buchhaltung, kleinere Veranstaltungen (Teilnahme an Flohmärkten, Schulklassen besuchen, …). Und wir haben gemerkt, wie wir an die Grenzen unserer Kapazitäten kommen. Wir wollen vermeiden, dass Mitglieder, mit ihrer ganzen Motivation und Idealismus, dann vom Ausbrennen gefährdet sind. Im neuen Café möchten wir die Öffnungszeiten stark erweitern, um präsenter zu sein, und allen Interessierten, die vorbeikommen, die Möglichkeit zu geben, bei uns reinzuschauen. Ich denke, dafür wird es nötig sein, einerseits bezahlte Stellen für die Gastronomie oder die Verwaltung einzurichten; andererseits unsere eigenen Strukturen im kommenden Winter gut aufzustellen und Verantwortlichkeiten zu klären. Wir bemühen uns, Förderungen zu bekommen, egal ob öffentliche oder private Hand.
Michael: Aktuell sammelt ihr für diesen nächsten Schritt über eine Crowdfunding-Kampagne Geld. Wofür werdet ihr das Geld einsetzen, das da zusammenkommt?
Philipp: Da lass ich mal unser Video für sich sprechen. Das findet ihr auf unserer Startnext-Seite. Ihr könnt uns dort noch bis Ende Oktober unterstützen!
Michael: Möchtest du den Leser*innen noch etwas mitgeben?
Philipp: Ich finde es wichtig, zu betonen, dass das Konzept vom Café übrig in keiner Weise eine Konkurrenz zu Einrichtungen darstellt, die sich um die Versorgung von Bedürftigen kümmern (Tafel, Wärmestuben). Wenn wir direkt große Lebensmittel-Spenden bekommen, nehmen wir Kontakt mit der Tafel auf, ob sie Bedarf haben. Das hat Priorität, und wenn bei uns die Regale leer sind, umso besser, dass nichts übrig bleibt!
Das hört sich ja wunderbar an! Inspirierend! Schon ewig hab ich so ne idee doch es wirkt so schwierig in der umsetzung. Was könntet ihr denn empfehlen, bei dem wunsch soetwas auch im eigenen veedel, in der nachbarschaft, umzusetzen? Was habt ihr in eurem prozess gelernt?
Herzlichste grüße